Die Rekonstruktion des Augenblicks –
Gedanken zu Bildern von Stefan S. Schmidt
Ich muß zunächst von einem Bild berichten, das nicht in dieser Ausstellung gezeigt wird. Es ist ein Bild, das ich vor vielen Jahren von Stefan S. Schmidt erwarb.
Stellen Sie sich vor, Sie werfen einen kurzen Blick auf die Kante eines Esstisches mit einem blütenweißen Tischtuch. Ihre Betrachterperspektive ist die eines Kindes, von unten aufschauend. Auf dem Tisch steht ein volles Rotweinglas, dessen Standfläche sich etwa zur Hälfte über dem Tischrand hinaus befindet.
Ich assoziierte damals das Bild mit Szenen aus Marx-Brothers-Filmen, wo sich das Chaos allein schon in dem Erscheinen der drei Protagonisten ankündigt. Sobald sie in einer Szene auftauchen, wird etwas Unvorhersehbares passieren. Ruhe ist trügerisch, wenn die Marx-Brothers da sind.
Sie schauen also auf das Bild, und das Glas bewegt sich auf Sie zu, Sie glauben zu wissen, was im nächsten Moment passiert – das Glas fällt Ihnen entgegen, und das Chaos bricht herein. Nichts von dem ist im Bild sichtbar – hier ist die Szene friedlich, alles geschieht in Ihrem Kopf.
Der Maler hat in diesem Bild den Moment rekonstruiert, bevor etwas geschieht. Der Ausgang des Geschehens ist im Bild noch offen, aber der mögliche Gang des nächsten Moments wird schon im Gezeigten sichtbar, so dass die Phantasie des Betrachters ihn antizipieren kann. Stefan S. Schmidt hat ihr eine perfekte Kulisse geschaffen und die nötigen Elemente arrangiert: einen Tisch, ein blütenweißes Tischtuch, ein Glas voller Rotwein, die Betrachterperspektive.
Das Bild hing sehr lange über meinem Schreibtisch um mich daran zu erinnern, dass Ruhe trügerisch sein kann.
Stefan S. Schmidt malt realistische Bilder. Was zunächst heißt, dass sein malerischer Ausdruck gegenständlich, nahezu minutiös der Erscheinungsform des Gegenstandes verpflichtet ist. Entscheidend ist jedoch für seine Bilder nicht die malerische Handschrift, sondern der malerische Blick.
In seinen Stilleben wird zum Beispiel Bemerkenswertes oder Typisches nicht an den Gegenständen selbst sichtbar gemacht, sondern an der Art, mit der ein Gegenstand mit anderen arrangiert wird oder wann und wo diese Inszenierungen stattfinden.
Anders als in der Pop-Art will Stefan S. Schmidt nicht die Banalität des Gegenstandes ideologisch überhöhen oder an ihm sein malerisches Können demonstrieren, wie es bei den amerikanischen Fotorealisten oft der Fall ist.
Seine Inszenierung verweist meist weit über die Objekte selbst hinaus auf ein Drittes: Zum Beispiel auf die Beziehungen, die Dinge zueinander haben oder bekommen könnten, oder auf etwas, was kurz zuvor geschehen ist oder gleich danach geschehen wird. Durch ihr Arrangement werden die Objekte in seinen Stilleben zu Metaphern. Diese metaphorischen Beziehungen zwischen den Dingen stellen sich dann beim Betrachter als das Eigentliche der Bilder heraus. Sie bilden das Bleibende an dem Eindruck, den der Betrachter von ihnen mitnimmt.
Auf die Bedeutung von Stefan S. Schmidts malerischen Blick verweist ein weiteres Stilmittel. Er setzt Dinge oft miteinander in Beziehung, indem er sie seriell abbildet. Diese Wiederholung von Gleichem (Kohlköpfe), oder von Paradoxem (eine Pistole und ein Staubtuch) sind nicht nur auf eine ästhetische Wirkung aus, die ihre Qualität aus der ornamentalen Anmutung der Gesamtkomposition zieht, sondern lädt den Betrachter, wenn er denn will, zum Nachdenken über die Bezüge zwischen den Dingen ein. Wieder geht es um das Dritte, und dabei wird langsames Sehen gefordert. Paul Auster’s Satz über das Betrachten von Bildern „You won’t get there if you don’t slow down“ erweist seine kluge Bedeutung an Stefan S. Schmidts Serienbildern.
Man braucht Zeit und Assoziationsvermögen, um die möglichen Aussagen hinter dem Ornamentalen zu erkennen – zum Beispiel die semiotische Kraft in den seriellen Anordnungen von Hölzern und Stöckchen, die in dieser Ausstellung zu sehen sind. Diese muten an eine Serie abstrakter Zeichen, wie die Urformen eines fremden und mit primitiven Mitteln erstellten Alphabets. Durch den Effekt des Seriellen erweist sich selbst scheinbar Banales als ausgesprochen artikuliert, und hingeworfene Reisigzweige bilden verschlüsselte Worte und Sätze.
Stefan S. Schmidt ist ein realistischer Maler. Im Gegensatz zu anderen Stilrichtungen der Malerei haftet dieser ein dummes Vorurteil an, dass sie nichts anderes zeigen könne als Dinge, so wie sie sind. Weshalb sie das Stigma des Banalen, des emotional oder intellektuell Untiefen mit sich herumträgt.
Solange jedoch die Dinge nicht nur das sind, was sie zu sein scheinen, solange sie nicht immer nur für sich sprechen, sondern auch auf anderes verweisen, solange bedürfen sie der Interpretation und fordern geradezu nach einer künstlerischen Erfahrung durch die Malerei, die in der alltäglichen Gestalt der Dinge ihren Fluchtpunkt hat.
Robert Schützendorf, 2008